In der Softwareentwicklung steht man früher oder später vor einer entscheidenden Frage: Soll ein bestehendes System schrittweise verbessert oder komplett neu aufgebaut werden? Diese Entscheidung zwischen Refactoring und Rewrite ist komplex und hat weitreichende Konsequenzen für Ressourcen, Zeitpläne und den Geschäftserfolg. Der folgende Artikel bietet eine fundierte Entscheidungshilfe und beleuchtet die wichtigsten Faktoren dieser technischen Weichenstellung.

Die Ausgangslage – Wenn dein Projekt dich ausbremst

Kennst du das? Die Entwicklungszyklen werden immer länger, jede neue Funktion führt zu unerwarteten Bugs an anderer Stelle, und die Dokumentation ist bestenfalls lückenhaft. Was einst als elegante Lösung begann, hat sich zu einem komplexen System entwickelt, das mehr Probleme verursacht als löst.

Die typischen Anzeichen eines problematischen Legacy-Systems sind:

  • Entwickler benötigen unverhältnismäßig viel Zeit für kleine Änderungen
  • Die Fehlerrate steigt mit jeder Anpassung
  • Testabdeckung fehlt vollständig oder ist unzureichend
  • Niemand im Team versteht das System vollständig
  • Neue Technologien lassen sich kaum integrieren
  • Die Architektur ist nicht mehr zeitgemäß

Jeder Tag, an dem diese Probleme nicht angegangen werden, erhöht die technischen Schulden. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wie das System modernisiert werden sollte. Hier setzt die Entscheidung zwischen Refactoring und Rewrite an – eine Entscheidung, die nicht nur technisch, sondern auch psychologisch herausfordernd ist.

Was genau bedeutet eigentlich Refactoring – und was ein Rewrite?

Bevor wir tiefer einsteigen, sollten wir die Begriffe klar definieren:

Refactoring Rewrite
Schrittweise Umstrukturierung des bestehenden Codes Vollständige Neuentwicklung des Systems
Funktionalität bleibt während des Prozesses erhalten Neues System wird parallel zum alten entwickelt
Kontinuierliche Verbesserung, iterativer Ansatz Klarer Schnitt zwischen alter und neuer Lösung
Bestehende Technologien werden optimiert Möglichkeit, moderne Technologien einzuführen
Geringeres unmittelbares Risiko Höheres Risiko, aber potentiell größerer Nutzen

Beim Refactoring geht es darum, den Code zu verbessern, ohne seine externe Funktionalität zu verändern. Es ist wie eine Renovierung eines Hauses bei laufendem Betrieb – die Bewohner bleiben drin, während nach und nach Räume modernisiert werden.

Ein Rewrite hingegen bedeutet, ein neues Haus zu bauen und erst nach Fertigstellung umzuziehen. Dabei kann man moderne Materialien und Techniken nutzen, muss aber sicherstellen, dass alle Funktionen des alten Hauses übernommen werden.

Beide Ansätze haben ihre psychologischen Dimensionen: Refactoring vermittelt oft ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit, während ein Rewrite das Versprechen eines Neuanfangs und der Befreiung von Altlasten bietet.

Die wichtigsten Entscheidungsfaktoren im direkten Vergleich

1. Codequalität und Architektur

Die grundlegende Architektur eines Systems ist oft der entscheidende Faktor:

  • Für Refactoring spricht: Die grundlegende Architektur ist solide, aber die Implementierung hat über die Zeit gelitten. Module sind klar getrennt, aber der Code innerhalb der Module ist unübersichtlich.

  • Für Rewrite spricht: Die Architektur selbst ist problematisch, etwa durch zu enge Kopplung, fehlende Modularität oder fundamentale Design-Fehler, die sich nicht durch oberflächliche Änderungen beheben lassen.

Ein Beispiel: Ein monolithisches PHP-System ohne klare Trennung von Geschäftslogik und Präsentationsschicht lässt sich kaum durch Refactoring in eine moderne, API-basierte Architektur umwandeln. Hier ist ein Rewrite mit einem Framework wie Laravel oft die bessere Wahl.

2. Testabdeckung & Deployment-Prozesse

Tests sind der Sicherheitsgurt bei der Modernisierung:

  • Ohne Tests ist Refactoring riskant: Ohne automatisierte Tests fehlt die Sicherheit, dass Änderungen keine unerwünschten Nebenwirkungen haben.

  • Mit guter Testabdeckung wird Refactoring planbar: Bestehende Tests geben Sicherheit bei der schrittweisen Umgestaltung.

  • Für Rewrite-Projekte sind Tests die Spezifikation: Vorhandene Tests können als funktionale Spezifikation für das neue System dienen.

Auch die Deployment-Infrastruktur spielt eine Rolle: Systeme mit komplexen, manuellen Deployment-Prozessen sind für Refactoring-Ansätze oft problematisch, da jede Änderung ein Risiko darstellt.

3. Entwicklerteam & Know-how

Das vorhandene Wissen im Team ist ein kritischer Faktor:

  • Expertise im bestehenden System: Wenn niemand das aktuelle System wirklich versteht, wird Refactoring zum Blindflug.

  • Erfahrung mit modernen Technologien: Ein Rewrite erfordert Kompetenz in den Zieltechnologien – fehlt diese, droht ein neues Problemsystem.

  • Teamgröße und -struktur: Große Teams können parallel an Rewrite und Wartung arbeiten, kleine Teams müssen oft einen sequentiellen Ansatz wählen.

4. Zeit & Budget

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind entscheidend:

  • Refactoring ermöglicht inkrementelle Investitionen: Die Kosten verteilen sich über einen längeren Zeitraum, erste Verbesserungen sind schnell sichtbar.

  • Rewrite erfordert eine Vorabinvestition: Es dauert länger, bis erste Ergebnisse sichtbar werden, dafür kann das Endergebnis deutlich besser sein.

Eine realistische Einschätzung ist hier entscheidend: Studien zeigen, dass Rewrite-Projekte im Durchschnitt 150-200% der ursprünglich veranschlagten Zeit benötigen.

5. Business-Kontext & Abhängigkeiten

Die Geschäftsanforderungen bestimmen oft den Spielraum:

  • Kontinuität der Geschäftsprozesse: Muss das System ununterbrochen verfügbar sein, spricht das für Refactoring.

  • Externe Schnittstellen: Viele Verbindungen zu Drittsystemen erschweren einen Rewrite, da alle Integrationen neu implementiert werden müssen.

  • Regulatorische Anforderungen: In stark regulierten Branchen kann ein Rewrite zusätzliche Zertifizierungen erfordern.

Psychologische Stolpersteine in der Entscheidungsfindung

Bei der Entscheidung zwischen Refactoring und Rewrite spielen nicht nur technische, sondern auch psychologische Faktoren eine Rolle:

Sunk Cost Fallacy – Die Falle der versunkenen Kosten

"Wir haben bereits so viel in das System investiert, wir können jetzt nicht alles wegwerfen." Diese Denkweise führt oft dazu, dass an problematischen Systemen festgehalten wird, obwohl ein Neuanfang langfristig günstiger wäre. Die bereits investierten Ressourcen sind jedoch versunken und sollten die zukünftige Entscheidung nicht beeinflussen.

Overconfidence Bias – Die Überschätzungsfalle

"Ein Rewrite schaffen wir in sechs Monaten." Diese optimistische Einschätzung ist ein klassischer Fall von Selbstüberschätzung. Tatsächlich dauern Rewrite-Projekte fast immer länger als geplant, da die Komplexität des bestehenden Systems oft unterschätzt wird.

Angst vor Kontrollverlust

Refactoring wirkt kontrollierbarer und planbarer, bleibt aber oft in einem Zustand permanenter Verbesserung stecken, ohne je das Optimum zu erreichen. Ein Rewrite hingegen bedeutet, zeitweise die Kontrolle abzugeben und auf ein zukünftiges, besseres System zu setzen.

Praxisbeispiele – Wann Refactoring oder Rewrite die bessere Wahl war

Fallbeispiel 1: Erfolgreiches Refactoring eines E-Commerce-Backends

Ein mittelständischer Online-Händler stand vor der Herausforderung, sein gewachsenes Shopsystem zu modernisieren. Das Team entschied sich für einen Refactoring-Ansatz mit folgender Strategie:

  1. Einführung einer umfassenden Testabdeckung für kritische Funktionen
  2. Schrittweise Isolation von Modulen durch klare Schnittstellen
  3. Modernisierung einzelner Komponenten nach Priorität

Der Vorteil: Das Geschäft lief während der gesamten Umstellung unterbrechungsfrei weiter. Nach 12 Monaten war das System vollständig modernisiert, ohne dass Kunden Einschränkungen bemerkt hätten.

Fallbeispiel 2: Erfolgreicher Rewrite einer Legacy-Webanwendung

Ein Industrieunternehmen betrieb eine 15 Jahre alte Intranet-Anwendung auf Basis veralteter Technologien. Nach sorgfältiger Analyse entschied man sich für einen kompletten Rewrite:

  1. Entwicklung einer modernen Laravel-basierten Anwendung mit API-First-Ansatz
  2. Parallelbetrieb von altem und neuem System während der Entwicklung
  3. Schrittweise Migration von Funktionen und Daten

Der Rewrite dauerte 18 Monate, ermöglichte aber eine vollständige Neugestaltung der Benutzeroberfläche und die Integration moderner Technologien, die im alten System nicht möglich gewesen wären.

Entscheidungsbaum: Refactoring oder Rewrite?

Um die Entscheidung zu erleichtern, haben wir einen Entscheidungsbaum entwickelt, der die wichtigsten Faktoren berücksichtigt:

Kriterium Wenn Ja Wenn Nein
Ist die grundlegende Architektur des Systems solide? Tendenz zu Refactoring Tendenz zu Rewrite
Existiert eine gute Testabdeckung? Refactoring wird sicherer Refactoring wird riskant, Tests müssen zuerst geschrieben werden
Verstehen die aktuellen Entwickler das System vollständig? Refactoring wird effektiver Rewrite könnte einfacher sein als das Verstehen des alten Systems
Muss das System kontinuierlich verfügbar sein? Refactoring bietet weniger Unterbrechungen Rewrite ist ohne Verfügbarkeitsrisiko möglich
Ist das Budget für eine Komplettlösung vorhanden? Rewrite ist finanzierbar Schrittweises Refactoring verteilt die Kosten
Sind moderne Technologien ein strategischer Vorteil? Rewrite ermöglicht technologischen Sprung Refactoring kann ausreichend sein

Die Antworten auf diese Fragen geben eine Tendenz, aber keine absolute Empfehlung. Jedes Projekt hat seine Besonderheiten, die berücksichtigt werden müssen.

Fazit – Kein Weg ist falsch, aber einer ist deiner

Die Entscheidung zwischen Refactoring und Rewrite ist keine Frage von richtig oder falsch, sondern von Angemessenheit für die spezifische Situation. Beide Wege können zum Erfolg führen, wenn sie mit realistischen Erwartungen und klarer Strategie angegangen werden.

Einige abschließende Gedanken:

  • Hybride Ansätze sind oft am erfolgreichsten: Eine Kombination aus Refactoring für stabile Teile und Rewrite für problematische Module kann die Vorteile beider Welten vereinen.

  • Entscheidend ist die Umsetzungsqualität: Ein schlecht durchgeführter Rewrite kann schlimmer sein als das ursprüngliche Problem, während ein konsequentes Refactoring erstaunliche Verbesserungen bringen kann.

  • Die Entscheidung sollte datenbasiert sein: Analysiere Fehlerraten, Entwicklungsgeschwindigkeit und technische Schulden, bevor du entscheidest.

  • Lieber richtig refactoren als falsch neuschreiben: Ein Rewrite ist kein Allheilmittel für organisatorische oder prozessuale Probleme.

Ob Refactoring oder Rewrite – entscheidend ist, dass du den Modernisierungsprozess strukturiert angehst und die spezifischen Anforderungen deines Projekts berücksichtigst. Mit der richtigen Strategie kann jedes Legacy-System in eine zukunftsfähige Lösung transformiert werden.

Benötigst du Unterstützung bei der Bewertung deines Projekts oder der Umsetzung einer Modernisierungsstrategie? Unsere Experten für Webanwendungen und Softwareentwicklung helfen dir gerne weiter, die richtige Entscheidung für dein spezifisches Projekt zu treffen.